Werkzeug aus dem Rucksack eines Weltenwanderers
Wissenschaft und Spiritualität — Wie geht das denn zusammen…?
Folgender Dialog hat sich so, oder so ähnlich, schon oft in meinem Leben zugetragen. Meist mit Menschen, die ich grade näher kennen lerne und sie mich. Dann kommt zur Sprache, welchen Beruf jeder ausübt und womit man sich so beschäftigt. Physikprofessor? Wissenschaft? Spiritualität? Meditation? Zen? Medialität? Ja um Himmels Willen! Wie geht das denn zusammen?
Und sicherlich ist die Frage nicht ganz unberechtigt. Fühlt man doch schon, wenn all diese Bereiche, in denen sich meine menschliche Erfahrung gerade entfaltet, in einem Atemzug genannt werden, wie dahinter Weltbilder sich erheben und aufeinander treffen in einer Art, die eigentlich unversöhnlicher kaum sein könnte. Hier die augenscheinlich materialistische Weltsicht der Wissenschaft: messen, wägen, berechnen, erklären – am besten alles zu einem Zweig der angewandten Mathematik machen. Dort die spirituelle Sicht, in der die Welt so viel mehr ist, als es dem Alltagsbewusstsein erscheint. Jedes Lebewesen zutiefst verbunden mit allem, was existiert. Du und ich ein ungetrennter Teil des Einen Ganzen, des Einen Seins. Und dazwischen dann noch subtile Energien verschiedener Ebenen, Wesenheiten, Engel, Devas, Buddhas und Bodhisattvas – Himmel hilf!
Interessant ist dabei zunächst die Beobachtung, dass unser Bild von der Welt mitbestimmend dafür ist, welche Erfahrungen wir machen. Sagen wir, ein Schamane, ein Wissenschaftler und ein buddhistischer Mönch gehen im Wald spazieren. Danach berichtet der Schamane vielleicht von Waldgeistern und einer Wassernymphe, die ihm begegnet sind. Der Wissenschaftler hat sich derweil Gedanken darüber gemacht, warum das Moos nur auf der Wetterseite der Bäume so gut wächst und welchen sozialen Zweck wohl das Gezwitscher in der Gemeinschaft der Vögel erfüllt. Der Mönch hingegen entwickelt beim achtsamen Gehen möglicherweise Mitgefühl mit dem Regenwurm, der von einer Amsel am Wegesrand aufgepickt wurde. Und dies sind alles harmlose Beispiele. Weltbilder können aufeinander treffen und Krieg, Streit und Entzweiung hervorbringen. Jüngstes Beispiel, uns allen lebhaft vor Augen, die Sicht auf jenes kleine Virus, das unser aller Leben nachhaltig verändert hat. Die Spaltung in der Gesellschaft ist immer noch präsent.
Dabei wird eines vergessen: jedes Weltbild ist ein Konzept, ein Modell von der Wirklichkeit, eine Landkarte. Nicht die Wirklichkeit selbst. Und eine Landkarte ist notwendigerweise eine niederdimensionale Projektion: Der sichtbare Sternenhimmel, zum Beispiel, lässt sich auf einem Blatt Papier abbilden, einer Sternenkarte. Die unermesslichen Weiten des Weltalls abgebildet auf DIN A4. Dabei ist klar, dass das Resultat von der Perspektive abhängt. Wenn jemand die gleiche Abbildung aus der Perspektive eines Planeten erstellt, der sagen wir in unserer Nachbargalaxie Andromeda beheimatet ist, wird das Resultat erheblich anders aussehen. Die Karten widersprechen sich scheinbar. So lange bis wir in der Lage sind, eine größere Perspektive einzunehmen, in diesem Fall, die dritte Raumdimension mit zu berücksichtigen. Das liegt auf der Hand, ist aber nicht immer ganz einfach.
Ein berühmtes Beispiel dafür aus der Physik ist der sogenannte Welle-Teilchen-Dualismus von Licht. Die Diskussion geht zurück bis ins 17. Jahrhundert, als verschiedene Deutungen optischer Phänomene begannen, miteinander zu konkurrieren. Mit dem Erfolg der Elektrodynamik dachte man dann Ende des 19. Jh., dass Licht klarer Weise Wellencharakter haben muss. Bis dann nach der Jahrhundertwende klar wurde, u. a. mit einer berühmten Arbeit Albert Einsteins über den photoelektrischen Effekt 1905, dass bestimmte Eigenschaften des Lichts nur mit seinem Teilchencharakter erklärbar sind. Erst das Aufkommen der Quantenmechanik bot dann eine Perspektive, die eine umfassende Beschreibung erlaubte. Heute wissen wir, dass alles, sowohl Licht als auch Materie, Wellen- und Teilchencharakter hat. Aber die Theorie, dasjenige mathematische Modell, das es uns erlaubt, das zu beschreiben und alle Experimente richtig vorherzusagen, ist alles andere als anschaulich. Man kann es anwenden, man gewöhnt sich daran. Verstehen ist etwas Anderes. Das ist ein gutes Beispiel: zwei Modelle der Wirklichkeit, beide sind für unseren Verstand „anschaulich“, widersprechen sich aber. Der Widerspruch kann erst auf einer höheren Ebene gelöst werden, da wo wir bereit sind, unsere alltäglichen Vorstellungen hintan zu stellen. Und was auch klar sein muss: Bisher ist kein Ende in Sicht. Auch Quantenmechanik ist kein Allheilmittel, nicht mal in der Physik. Dort wo das Große (Sterne und Galaxien, wo die Schwerkraft dominiert) und das Kleine (Licht, Materieteilchen) zusammen kommen stehen wir nach wie vor vor Rätseln. Also, am Besten pragmatisch mit dem Arbeiten, was wir haben und weiter gehen.
Wo aber liegt dann das Problem? Nun, es liegt darin, dass wir uns gerne identifizieren. Vielleicht nicht mit Quantentheorie, aber zum Beispiel mit dem wissenschaftlichen Weltbild. Oder einem religiösen. Oder dem spirituellen, dem schamanischen usw.. Wir hängen unser Selbstverständnis an ein Modell der Wirklichkeit, an ein Konzept. An eine Idee von uns und unserem Platz in der Welt. Und nicht missverstehen: solche Konzepte sind durchaus sinnvoll, auch notwendig fürs Überleben. Ohne ein Konzept von dir als Person, von deinem Körper, kannst du nicht einmal unversehrt die Straße überqueren. Aber wir identifizieren uns damit und hinterfragen nicht weiter.
Die Frage ist doch: Wer bin ich, wer bist du, jenseits aller Konzepte? Wer sind wir ohne auch nur einen einzigen Gedanken? „Ich denke also bin ich“ ist das Descartsche Credo, das unsere Welt bis heute prägt. Aber wer bin ich ohne das, ohne Vorstellung von mir als dies oder jenes? Was passiert, wenn du zwischen zwei Atemzügen einfach anhältst? Für einen Augenblick keine Vergangenheit, keine Zukunft, nicht einmal Gegenwart. Stopp! Und dann? Wer bist du dann? Die Erfahrung, die dann vielleicht auftaucht, wird von vielen als reines Gewahrsein, als Zeugenbewusstsein, vibrierende Stille oder auch als immer-präsenter, alles durchdringender Herzgeist beschrieben. Also wieder Ideen und Konzepte. Sobald du es benennst liegst du meilenweit daneben, wie es im Zen heißt. Erleben ist das Stichwort, Erfahren. Und auf dieser Basis ist es dann möglich, einfach los zu lassen. In die vibrierende Weite, die namenlose Stille hinein. Dich selbst als DAS zu erkennen, ein ungetrennter Teil des Ganzen, oder noch besser: als das Ganze, das EINE ohne ein Zweites. Oder, um mit Erwin Schrödinger, einem der Begründer der Quantenmechanik, zu sprechen: „Du – und ebenso jedes andere bewusste Wesen für sich genommen – bist alles in allem.“ Wer aus so einer Erfahrung wieder auftaucht ist zwangsläufig verändert, hat eine neue Perspektive, eine neue Basis gewonnen. „Gib mir einen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln“ (Archimedes). Nur dass dieser Punkt nirgendwo da draußen zu finden ist. Aber wenn er gefunden wird, dann ist da Freiheit. Freiheit, jede Karte, jedes Modell, jedes Weltbild zu nutzen. Die Identifikation wird fließend, flexibel.
Und so ist es durchaus möglich auch sich widersprechende Modelle zu gebrauchen, sagen wir als Arbeitshypothese. Da meine Identifikation, mein Selbstverständnis nicht daran hängt, ist es auch unerheblich, ob sich das Modell vielleicht irgendwann als überholt oder sogar falsch herausstellt. Es ist nur ein Mittel zum Zweck, ein Werkzeug der Erfahrung. In einer Situation mag das Modell Licht als Welle nützlich und angemessen sein, mir auch weitere Erfahrung dieser Art ermöglichen, so dass ich zum Beispiel Beugung und Interferenz beobachten kann. Ein anderes Mal Licht als Teilchen. Und, ich kann entspannt bleiben, auch wenn die übergeordnete Perspektive, das übergeordnete Weltbild noch nicht gefunden ist, oder vielleicht auch nie gefunden wird. Und es hebt sich der Vorhang auf vielen Bühnen und die unterschiedlichsten Erfahrungen werden zugänglich. Einfach weil eine Arbeitshypothese so viel handlicher und flexibler ist als ein Weltbild, kann sie nicht nur nach Bedarf angepasst und optimiert werden, sondern es können je nach Erfahrungsbereich auch viele nebeneinander existieren.
Vorausgesetzt aber ich erlebe und identifiziere mich außerhalb von alledem. Dann ist es möglich, die Vielfalt zu genießen, das Herz zu öffnen und den Verstand zu entspannen. Zu entdecken, dass wir multidimensionale Wesen in einem multidimensionalen Universum sind, das sich auch durch uns mehr und mehr seiner selbst bewusst wird. Wir sind eingeladen, wie in einem Fraktal Welten über Welten zu entdecken, frei zwischen den Welten zu wandeln, und wenn wir wollen sogar meist mit einer geeigneten Karte im Gepäck. Was allerdings notwendig ist, ist aufzuwachen. Aus dem kollektiven Traum des Mensch-Seins, der vermeintlichen Sicherheit durch Identifikation mit dieser und jener Idee von mir und der Welt und einem starren Konzept. Aus dem „ich denke, also bin ich“. Und statt dessen einen Rucksack zu packen mit geeigneten Werkzeugen, die Erfahrung ermöglichen auf allen Ebenen unseres Daseins. Arbeitshypothesen, die es uns erlauben, weiter Fragen zu stellen, Erfahrung zu machen und auf Entdeckungsreise zu gehen. Bis, vielleicht, zur nächsten übergeordneten Perspektive. Als Wanderer zwischen den Welten.